Kampmeiers Kolumne

Von Hamburg nach Sachsen: Was ich über Vertrauen und Vorurteile gelernt habe

Veröffentlicht am 14. März 2025
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Leben in Sachsen als Wessi: Warum wir Vorurteile haben, wem wir vertrauen und was ich über Schubladendenken gelernt habe. Eine persönliche Geschichte.

„Was, du wohnst jetzt in Sachsen? Warum DAS denn?!“
„Na ja, du wirst ja wohl wissen, was du tust …“
„Pass bloß auf, mit wem du dich da einlässt.“


Ja, genau. Willkommen in meinem Leben.

Vor gut vier Jahren wurde mir in Hamburg meine Bleibe gekündigt. Also suchte ich mir eine neue – und weil ich Herausforderungen liebe (oder einfach ein Talent dafür habe, mich ins Abenteuer zu stürzen), landete ich nicht in der nächsten hippen Großstadt, sondern in einem 350-Seelen-Dorf irgendwo in Sachsen. Idyllisch am Waldrand, mit Blick auf den Fluss. Perfekt für ein bisschen Ruhe! Dachte ich.

Doch schon nach dreieinhalb Wochen stand ein Mann in meinem Garten – bereit, meine Bäume zu fällen. Die Bäume blieben, der Mann auch. Und plötzlich war meine „Ich geh mal in den Osten und genieße die Einsamkeit“-Idee nicht mehr ganz so einsam.

Mein Umzug nach Sachsen: Erwartungen vs. Realität

Ich habe diesen Umzug ehrlich unterschätzt. Nicht nur wegen der beruflichen Herausforderungen, sondern vor allem wegen der Reaktionen, die ich bekam. Denn sobald du in Westdeutschland sagst, dass du in Sachsen lebst, passiert etwas Spannendes:

  • Die meisten räuspern sich verlegen.

  • Die einen schütteln mitleidig den Kopf.

  • Die anderen ziehen die Augenbrauen hoch und stellen Fragen wie: „Ernsthaft?“

  • Wieder andere – oft Menschen, die nie einen Fuß in den Osten gesetzt haben – nicken wissend und sagen Dinge wie: „Na, da weißt du ja, worauf du dich eingelassen hast…“

  • Es gab auch schon welche, die haben sich abgewandt. Die gehörten wohl auch zu denen, die sich ganz sicher sind: „Die Sachsen? Das sind doch alle Nazis!“

Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich diesen Satz gehört habe. Willkommen in der Schublade!

Mein Freund, der vermeintlich Rechtsradikale

Besonders eindrucksvoll war eine Episode mit einer Bekannten aus Lübeck. Ich hatte im ersten Sommer ein Foto in meinen WhatsApp-Status gestellt: Mein Freund – tätowiert, wenig Haar, schwarze Klamotten (Typ Biker) – saß mit mir in einem Biergarten.

Die Sonne blendete, er kniff die Augen zusammen. Ich schrieb dazu: „Der sieht nur so aus, als wäre er knurrig, in echt ist er gut gelaunt.“

Es dauerte nicht lange, da kam die Nachricht: „Na ja … mit der Klamotte wäre ich mir nicht so sicher … Sicher, dass du nicht mit nem Rechten am Tisch sitzt?“

Ich zoomte in das Bild. Schwarzer Hoodie. Die Schrift auf dem Ärmel war nicht zu erkennen, darauf stand „Sea Shepherd“. Eine Organisation, die sich für den Schutz der Meere einsetzt. Also eher linksgrünes Haifisch-Streicheln als rechtsradikales Gedankengut. Aber meine Bekannte hatte den Mann gesehen und ihr Urteil gefällt.

Warum? Weil unser Gehirn darauf programmiert ist. Es liebt schnelle Entscheidungen: Schublade auf, Mensch rein, Schublade zu. Und wenn „Sachse + Glatze + Schwarz“ = „Nazi“ ergibt, dann gibt es daran für viele nichts mehr zu rütteln.

Ost-West: Ein Thema, das noch lange nicht erledigt ist

Natürlich gibt es in Sachsen Fremdenfeindlichkeit. Aber die gibt es auch in Hamburg. Oder Bayern. Oder NRW. Leider.

Ich erinnere mich noch gut an mein erzkatholisches ostwestfälisches Heimatdorf in den 70ern, als die erste türkische Familie einzog. Glaubt mir: Die Sachsen haben das Misstrauen nicht erfunden.

Das Problem ist: Wir vertrauen dem, was wir kennen. Und weil viele im Westen nie längere Zeit im Osten waren, haben sie nur die Bilder im Kopf, die ihnen Medien und Gespräche liefern. Bilder, die oft auf Extremen basieren – denn die sind nun mal klickbarer als ein netter Plausch an der Supermarktkasse.

Und genau das ist der Punkt: Die meisten Menschen hier in Sachsen haben mich unglaublich herzlich aufgenommen. Auf der KFZ-Zulassungsstelle, beim Bäcker, im Supermarkt – ich habe selten so viel Offenheit erlebt. Und wenn ich das erzähle, sind immer alle erstaunt.

  • Die Sachsen – weil sie es genießen, mal etwas Positives über sich zu hören.

  • Die Westdeutschen – weil sie es nicht erwartet hätten.

Aber genau das zeigt doch, wie stark die Schubladen in unseren Köpfen noch sind.

Warum Vorurteile so gefährlich sind ...

Vorurteile sind bequem. Sie machen uns das Leben leichter, weil sie uns vorgeben, was wir von einer Person oder Gruppe zu erwarten haben. Aber sie haben einen Haken:

  • Sie lassen uns nur das sehen, was unser Bild bestätigt.

  • Sie halten uns davon ab, echte Menschen kennenzulernen.

  • Sie verhindern Vertrauen.

Und Vertrauen ist das Fundament jeder guten Beziehung – ob zwischen Menschen oder ganzen Gesellschaften.

… und was Märchen damit zu tun haben

Im Märchen „Das Süßeste und das Bitterste“ (zu hören auf KampmeiersKinderKanal) serviert eine Köchin dem König an einem Tag eine Zunge als süßeste Speise, am nächsten Tag als bitterste. Warum? Weil Worte beides sein können: sie können Leben retten oder zerstören.

Das gilt auch für unsere Gespräche über den Osten, über Sachsen, über Menschen im Allgemeinen – egal, welcher Herkunft. Wie reden wir über sie? Was hören wir über sie? Und, vielleicht am wichtigsten: Was sind wir bereit, selbst zu erleben, bevor wir urteilen?

Vertrauen beginnt mit Zuhören

Vertrauen wächst nicht über Nacht. Es entsteht durch Begegnungen, durch Gespräche, durch echte Erlebnisse.

Aber genau das fällt uns zunehmend schwer. In unserer schnellen, digitalisierten Welt hören wir oft nur noch hin, um zu antworten – nicht, um zu verstehen.

Vielleicht sollten wir uns öfter fragen: Will ich wirklich wissen, wie es jemandem geht – oder will ich nur meine eigene Sicht bestätigt sehen?

Vielleicht sollten wir öfter mal nachfragen, statt vorschnell zu urteilen.

Vielleicht sollten wir, anstatt die Hand aus skeptischer Distanz zu entziehen, sie einander einfach mal reichen.

Und dann schauen, was passiert.

Was denken Sie?

Haben Sie selbst schon mal erlebt, dass ein Vorurteil sich als völlig falsch herausgestellt hat? Oder sind Sie vielleicht sogar positiv überrascht worden? Schreiben Sie’s mir – ich bin gespannt!

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